Crashkurs

Anmerkungen zur Entwicklung der Finanzkrise

 

Weder im bürgerlichen noch im linken historischen Bewusstsein spielt der 9. August 2007 eine Rolle. An diesem Tag brach, beginnend in den USA, der sogenannte Interbankenmarkt zusammen. Die Banken hörten schlagartig auf, sich untereinander Geld zu leihen. Grund war das Umschlagen des Immobilien- und Hypothekenbooms in den USA in ein allgemeines Misstrauen, ob die jeweiligen Finanzinstitute bei einem möglichen Ausfall eines Teils ihrer Schuldner selbst überleben würden. Über Nacht sprang die staatliche amerikanische Notenbank ein und versorgte von da an selbst die Banken mit der notwendigen Liquidität, damit diese ihre Geschäfte fortsetzen konnten. Von diesem Zeitpunkt an gab es beim Hegemon des globalen Kapitalismus und auch über die USA hinaus keinen privaten Finanzmarkt mehr.

Die bürgerliche Politik und Öffentlichkeit – einschließlich Finanzpresse und -wissenschaft – nahm die Krise erst im September 2008 mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehmann Brothers in den USA in aller Schärfe wahr. Dies war der Endpunkt der Auseinandersetzung innerhalb der herrschenden Klasse, ob diejenigen Segmente des Finanzsektors, die sich verspekuliert hatten, auch den Preis der Marktlogik dafür zu zahlen hätten, nämlich pleite zu gehen. Nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers fürchteten die OECD Regierungen weitere Pleiten sogenannter systemrelevanter Banken. Um Zusammenbrüche weiterer Banken (die sich alle untereinander Geld geliehen bzw. sich wechselseitig an Spekulationsvehikeln beteiligt hatten) zu vermeiden, wurde kurzerhand der Markt durch den Staat ersetzt. Weitere Bankenpleiten hätten global zu einem Run auf die Spareinlagen geführt, die von den Banken, wenn alle Sparer_innen ihre Ansprüche gleichzeitig geltend gemacht hätten, nicht hätten bedient werden können, da sich die Banken mit ihren weltweiten spekulativen Investments überwiegend mittel- bis langfristig gebunden hatten. In der Konsequenz wäre innerhalb weniger Tage der gesamte Bankensektor zusammengebrochen. Damit wäre auch der allgemeine Geldkreislauf außer Funktion gesetzt worden (Geldautomaten, Bankschalter, Girokonten wären blank gewesen) und die Metropolengesellschaften wären von einem auf den anderen Moment in eine einfache Tauschwirtschaft zurückgefallen. Damals wurde zurecht von einer finanziellen Kernschmelze gesprochen.

Auf dem Höhepunkt der Krise im Oktober 2008 versprachen deshalb Kanzlerin Merkel und der damalige Bundesfinanzminister Steinbrück die unbegrenzte Garantie aller Sparguthaben. Allerdings hätten auch die öffentlichen Haushalte – selbst bei vervielfachter Schuldenaufnahme – diese Finanzierungskraft nicht gehabt (außen vorgelassen, wer in einer solchen Situation überhaupt noch öffentliche Schuldtitel gekauft hätte). Wenn es zu einem Run auf die Banken gekommen wäre, wäre der Staat bei diesem Garantieversprechen mit in den Abgrund gerissen worden. Es war nicht mehr als ein gehöriger Pokerbluff der deutschen Regierung, selbst mehr auf der Hand zu haben als die anderen. Die Panik war den politischen Akteur_innen damals jedoch ins Gesicht geschrieben. Sie wussten genau, dass wenn der Geldverkehr zusammenbrechen würde, auch im gesellschaftspolitisch ruhigen Deutschland die Möglichkeit von Unruhen und Aufständen bestand. Schon deshalb, weil keiner mehr gewusst hätte, wie die Milch im Supermarktregal bezahlt werden kann.

Das Beispiel HSH Nordbank

Am Beispiel der Bemühungen um den Erhalt der HSH Nordbank (hamburgisch-schleswig-holsteinische Regionalbank, die aus der Fusion der Hamburgischen Landesbank mit der Landesbank Schleswig-Holstein entstanden ist) lässt sich exemplarisch zeigen, wie hilflos die bürgerliche Politik vor, während und unmittelbar nach der Krise agierte. Der damalige Hamburger Finanzsenator Freytag (CDU) erklärte noch im Februar 2009, dass die staatliche Landesbank HSH Nordbank im Kern gesund sei. Die HSH hatte damals eine Bilanzsumme von 250 bis 300 Mrd. Euro, bei einer Eigenkapitalquote von 5 bis 7%. Um die dahinter stehenden Dimensionen zu verdeutlichen: Der Hamburger Haushalt hat eine Größe von 10 Mrd. Euro, wobei alle öffentlichen Haushalte zusammen (u.a. einschließlich der gesetzlichen Krankenkassen und Rentenversicherungen) ca. die Hälfte des Bruttosozialproduktes, d.h. der Wirtschaftskraft eines Landes, ausmachen. Das heißt, Hamburg hatte sich zusammen mit Schleswig Holstein eine Staatsbank geleistet, die mit einem zwanzigfachen Kredithebel (mit Bezug auf die Eigenkapitalquote von 5% wurde für jeden eigenen Euro das Zwanzigfache Kapital zur Spekulation aufgenommen), auf das Dreißigfache des Staatshaushaltes bzw. das Fünfzehnfache der lokalen Wirtschaftskraft spekulierte. In den Jahren vor dem Ausbruch der Finanzkrise ermöglichte dies, direkt und indirekt bis zu dreistellige Millionenbeträge als Gewinn an den Hamburger Haushalt abzuführen. Man träumte auch davon, die Bank profiträchtig an der Börse verkaufen zu können. Finanzsenator Freytag – der sich bis dato in der Öffentlichkeit gerne als gelernter Investmentbanker bezeichnete – und seine Vorgänger von CDU und SPD im Aufsichtsrat der HSH Nordbank hatten nie nach den operativen oder gar systemischen Risiken gefragt, die ihnen über Jahre einen warmen Geldsegen bescherten. Dabei gehört es zum Einmaleins der Kaufmannslehre, dass es keinen Profit ohne Risiko gibt.

Es kam, wie es kommen musste. In der ersten Hälfte des Jahres 2009 musste die HSH Nordbank durch die beiden Eignerländer mit frischem Eigenkapital in Höhe von je 3 Mrd. Euro ausgestattet werden und Hamburg eine Bürgschaft auf eingegangene Risiken der Bank in Höhe von 22 Mrd. aussprechen. Sonst wäre die Bank pleite gewesen und hätte die beiden Staatshaushalte sofort und endgültig ruiniert und die regionale Wirtschaft (z.B. Reedereien) wegen der Kreditverflechtungen mit in den Abgrund gerissen. Der Hamburger Eigenkapitalzuschuss und die Bürgschaft belaufen sich zusammen auf eine höhere Summe als die insgesamt in 65 Jahren angehäuften Hamburger Staatschulden in Höhe von ca. 21 Mrd. Euro.

Durch die sinkenden Steuereinnahmen und gesunkenen Werte der Unternehmensbeteiligungen im Zuge der Wirtschaftskrise hat Hamburg, das als relativ reiches Bundesland gilt, im Jahr 2009 sein Eigenkapital aufgebraucht und sich somit endgültig überschuldet. Der Stadtstaat Hamburg gönnt sich seit einigen Jahren eine kaufmännische Bilanz seiner Vermögenswerte (z.B. Grundstücke, Unternehmensbeteiligungen) und Schulden (u.a. ausgegebene Staatsanleihen, Pensionsverpflichtungen). So lassen sich die städtischen Finanzen wie bei einem Privatunternehmen betrachten. Die Stadt als Privatunternehmen hätte auch unabhängig von der Entwicklung der HSH Nordbank schon im Jahr 2008 ein Insolvenzantrag stellen müssen. Durch eine Pleite der HSH Nordbank könnte sich der Hamburger Schuldenberg nahezu verdoppeln. Neue Staatsschulden müssten mit einer Zinshöhe erkauft werden, die keine Aussicht mehr auf Rückzahlung der Kredite hätte. Die Staatspleite wäre final. Die soziale und kulturelle Infrastruktur müsste weitestgehend eingespart werden, Löhne/Altersversorgungen im öffentlichen Dienst massiv reduziert oder ausgesetzt werden, die Sozialhilfe als kommunale Aufgabe könnte nicht mehr bedient werden. Für die Kosten könnte nur der Bund als Ganzes aufkommen. Auch zwei Jahre später hoffen die Verantwortlichen noch, dass dieser Fall nicht eintreten möge und die Bank in Teilen wieder profitabel wird, damit die entstandenen Verluste zumindest teilweise wett gemacht werden können. Die Risiken, die weiterhin in der Bank stecken, können bis heute nicht abschließend bewertet werden.

Das Beispiel der HSH Nordbank macht eines ganz deutlich: Es war nicht nur das private, sondern gleichermaßen das staatliche Kapital, das die Spekulationsblase so lange genährt hat, bis sie geplatzt ist.

Geld heckt neues Geld

Welche Entwicklung war der Finanzkrise vorausgegangen, was hat sie ermöglicht? Mit dem Übergang zum Postfordismus Ende der siebziger Jahre etablierte sich ein neues Produktions- und Akkumulationsregime. Die Arbeitsprozesse wurden flexibilisiert und zunehmend international zusammengesetzt. Deshalb kann Arbeit zunehmend international in Konkurrenz gesetzt werden. In der Folge ging ab den achtziger Jahren und beschleunigt in den neunziger Jahren die Lohnquote am gesamtgesellschaftlichen Einkommen immer weiter zurück, während die Profitmargen auch auf der Grundlage von sinkender Unternehmensbesteuerung stiegen. Dies hatte zwei Konsequenzen: Weil die Masseneinkommen sanken, ging auch der Konsum zurück, so dass sich in verbrauchsnahen Wirtschaftssektoren weniger Investitionsmöglichkeiten boten. Diejenigen Kapitalanteile, die zur Erhöhung der Profitrate nicht in die Ausdehnung der jeweiligen Produktion oder Dienstleistung reinvestiert werden konnten, wurden deshalb überwiegend auf den Finanzmärkten angelegt, damit, um mit Karl Marx zu sprechen, „Geld neues Geld heckt“.

Diese Entwicklung wurde durch staatliche Interventionen noch verstärkt: Die Finanzmärkte wurden seit den achtziger Jahren zunehmend dereguliert, um Kapital an die jeweiligen nationalen Börsen zu locken. Internationale Kapitalverkehrskontrollen, insbesondere von Devisen, Investitionsmitteln und Profiten, wurden aufgegeben. Banken, Hedgefonds (Finanzvehikel, die jede mögliche Spekulationsform einsetzen, um überdurchschnittlichen Profit zu erzielen) und Private Equity Fonds (nicht an den Börsen gelistete Unternehmensverwaltungen) wurden kaum noch reguliert. Insbesondere die Zentralbank der USA ging ab Ende der achtziger Jahre dazu über, auf jeden Konjunkturabschwung mit einer Ausdehnung der Geldmenge durch eine Absenkung der Zentralbankzinsen zu reagieren. Die über die Jahre im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung überproportional ausgedehnte Geldmenge führte bisher nicht zu einer Inflation, also einer massiven Geldentwertung, begünstigte aber die Herausbildung von Spekulations- bzw. Preisblasen bei Finanzanlagen. Denn, wie oben schon geschildert, standen für die kontinuierlich ausgedehnte Geldmenge keine ausreichenden realen Investitionsmöglichkeiten mehr zur Verfügung. Dies hatte insgesamt zur Konsequenz, dass im Finanzsektor nahezu ungebremst Kredite aufgenommen werden konnten, um den Geschäftsrahmen, aber auch das jeweilige Risiko enorm aufzublähen. Im Gegenzug wurde die gesamtgesellschaftliche Steuerung des Angebotes von Arbeit und Kapital durch staatliche Interventionen (wie in Deutschland noch unter der Schmidt-Regierung u.a. durch die Stützung der Nachfrageseite auf der Basis von Reallohnsteigerungen) gänzlich aufgegeben. In diesem Sog wurden auch die Lohnarbeiter_innen durch die zunehmende Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme (Rente, Krankenkasse) gezwungen, über entsprechende private Versicherungen, die u.a. in Aktien anlegt wurden, ebenfalls die Finanzmärkte zu befeuern.

Im letzten Boomzyklus ab 2001 wurde die Finanzbranche größenwahnsinnig. Die führenden Investmentbanken (d.h. Banken, deren wesentliches Geschäftsfeld der Eigenhandel mit Finanzprodukten ist, die sich also wie überdimensionierte Hedgefonds verhalten) setzten sich das Ziel, dauerhaft Gewinnmargen bzw. Eigenkapitalrenditen von 25% zu erreichen. Diese wurde von den Großen und Erfolgreichen der Branche, wie etwa der Deutschen Bank, auch einige Jahre lang erreicht. Solche Profitraten stellen jedoch gerade auch unter einem kapitalistischen Blickwinkel eine absolute Abnormalität dar. Die langfristige Profitrate des Kapitalismus lag in der letzten 150 Jahre inflationsbereinigt bei durchschnittlich 6%. Die zwischenzeitlich hohen Profitmargen von Teilen des Finanzkapitals kamen nur auf Kosten weltweit sinkender Reallöhne und einer zerfallenden sozialen Infrastruktur auf Grundlage stark gesunkener Steuereinkünfte zustande. Die exorbitanten Gewinne waren auch Ausdruck eines globalen spekulativen Schneeballsystems, mit dem kurzfristig Gewinne maximiert und Verluste potenziert in die Zukunft verschoben wurden.

Die nächste Finanzkrise kommt bestimmt

Mit der weitgehenden Verstaatlichung bzw. Absicherung der Privat- und Staatsbanken der OECD-Länder während der Finanzkrise wurden die vorangegangenen Gewinne auch für die Zukunft legalisiert, indem die Eigner_innen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Gleichzeitig wurden durch die staatliche Absicherung die Verluste der letzten drei Jahre und die noch zu erwartenden Verluste der kommenden Jahre sozialisiert. Die westlichen Staaten dehnten ihre Schuldenaufnahme erheblich aus und hoben insbesondere die Verbrauchssteuern, denen alle Bürger_innen unabhängig von ihrer Einkommenshöhe unterworfen sind, an, um die Bankenrettungen überhaupt finanzieren zu können. Diese Aktivitäten verhinderten nicht, dass Island in die Pleite rutschte und Ungarn, Griechenland Irland und Portugal zur Zeit nur durch finanzielle Interventionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU vor der sofortigen Pleite bewahrt werden können. Spanien gilt aufgrund der aktuellen Entwicklung in Portugal ebenfalls als bedroht, auch wenn es noch keine internationalen Stützungsmaßnahmen in Anspruch nehmen muss.

2009 schien es noch so, als ob die westlichen Regierungsapparate und Teile des Kapitals deshalb eine Re-Regulierung des Finanzsektors durchsetzen wollten. So sollten die Eigenkapitalanforderungen erhöht (was die mögliche Profitrate verringert hätte), die absolute Größe der Banken verringert und begrenzt, die Finanzaufsicht internationalisiert und massiv ausgedehnt, Hedgefonds verboten sowie Investmentbanken vom Privatkundengeschäft getrennt werden. Mit letzterem wären Spareinlagen etwas besser geschützt worden, da ein Zusammenbruch von Investmentbanken dann nicht unmittelbar das Risiko in sich trägt, den Geldverkehr zu unterbrechen. Diese kapitalkonformen Reformideen wurden jedoch nicht einmal ansatzweise umgesetzt und es ist auch nicht absehbar, ob dies zukünftig geschieht. Die aggressive Finanzkapitalfraktion hat wieder Oberwasser: Die Profite zugunsten der kleinen Klasse der Vermögenseigner_innen sollen wieder steigen und die bürgerlichen Regierungen lassen sich offensichtlich mit dem Argument erpressen, dass Regulierungen des Finanzkapitals dessen kurzfristige Stabilität gefährden würden.

Die Finanzkrise ist deshalb aber nicht ausgestanden, im Gegenteil. Mit der fortgesetzten Ausdehnung der Geldmenge durch die US-Notenbank versucht diese, den derzeitigen Konjunkturabschwung in den USA zu bekämpfen. Die stark überschüssige Liquidität wird jedoch auch die Bildung von Vermögensblasen beschleunigen, weil ein Großteil des Geldes nicht in der Realwirtschaft, sondern wiederum in Finanzvehikel investiert wird.

Dies macht einen erneuten und noch größerer Zusammenbruch erst der Aktienwerte und dann der Realwirtschaft wahrscheinlich. Dieses Risiko wird noch erhöht, indem Staaten wie Irland und Griechenland, trotz der Stützungsmaßnahmen, als Folge der Bankenkrise auf den Staatsbankrott zusteuern. Die Notkredite der EU und des IWF wurden mit so hohen Zinssätzen versehen, dass diese dauerhaft nicht bedient werden können, ohne dass die Staatsverschuldung weiter ansteigt. Gleichzeitig wurde den Ländern unter dem Diktat von IWF und EU massive Sparauflagen verordnet, wodurch deren Wirtschaftsabschwung verstärkt wird. In der Folge sinken das Bruttosozialprodukt und die Steuereinnahmen. Parallel schwindende Einnahmen und massiv steigende Ausgaben durch die Zinsdienste haben eine Schuldenspirale in Gang gesetzt, die absehbar in den Staatsbankrott führt. Diese Entwicklung findet ihren realen Ausdruck an den Finanzmärkten, wo die schon ausgegebenen Staatsanleihen der vom Staatsbankrott bedrohten Länder massiv an Wert verloren haben. Neue Staatsanleihen wurden nicht mehr ausgegeben, weil die dafür notwendigen Zinsaufschläge als Risikopuffer bis zum Doppelten über den Strafzinsen der EU liegen. Gegenläufig profitierte davon zeitweilig die Bundesrepublik Deutschland, weil das Anlegerkapital vermehrt Bundesanleihen nachfragte, so dass deren Zinssätze auf historische Tiefs fielen.

Wirtschaftpolitische Erwägungen der Bundesregierung

Was motiviert jedoch die bundesdeutsche Regierung, die ein Drittel der Wirtschaftsmacht des Euro stellt und damit auch über entsprechenden politischen Einfluss im IWF und der EU verfügt, eine solche innereuropäische Politik zu forcieren? Die deutsche Wirtschaft ist extrem auf den Export ausgerichtet. Deutschland hat im internationalen Vergleich in den letzten Jahren die meisten Waren ausgeführt und vergleichsweise wenig Waren eingeführt. Diese Exporterfolge sind nicht nur auf die historisch gewachsene Spezialisierung deutscher Industrien (u.a. auf hochwertige Konsumgüter wie Autos, Waffenproduktion oder den Maschinen- und Anlagenbau, der von dem industriellen Aufschwung in den Schwellenländern profitiert) zurückzuführen, sondern auch auf Reallohnverluste der bundesdeutschen Arbeiter_innen in den letzten 15 Jahren. Die Gewerkschaften waren, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr in der Lage, Reallohnsteigerungen durchzusetzen. Zusammen mit der weiterhin steigenden Produktivität sind deshalb die Lohnstückkosten gefallen. Dies hat im internationalen Wettbewerb dazu geführt, dass Produkte „Made in Germany“ nicht nur als qualitativ hochwertig, sondern auch als relativ preiswert gelten.

Die Exportüberschüsse haben zur Folge, dass sich andere Länder zulasten der Bundesrepublik verschulden, um deutsche Waren kaufen zu können. Dies gilt beispielsweise für die USA, aber auch für die meisten Staaten der EU. Auf dem europäischen Binnenmarkt wird das relativ starke deutsche Produktions- und Dienstleistungskapital weder durch Handelsschranken noch durch Währungsschwankungen behindert. In absoluten Werten hat deshalb in den letzten 15 Jahren kein Land so sehr von der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu Lasten anderer Mitgliedsstaaten profitiert wie das bundesdeutsche Kapital (nur einige kleinere Länder wie die Niederlande haben einen noch höheren Exportanteil, fallen jedoch nicht so sehr ins Gewicht).

Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ist deshalb zur Zeit von drei Erwägungen geleitet: Stützungsaktionen gegenüber Griechenland und Irland sollen die deutschen Privatbanken schützen, die im hohen zweistelligen Milliardenbereich griechische und irische Staatsanleihen und Schulden von deren Finanzinstituten in den eigenen Büchern halten. Sollten diese Schuldner_innen ausfallen, wären nicht nur die schon teilverstaatlichte Commerzbank, sondern auch die bisher noch nicht staatlich gestützte Deutsche Bank massiv betroffen.

Zweitens wollen die bundesdeutschen Eliten eine sogenannte Transferunion verhindern. Damit ist gemeint, dass die überdurchschnittlich konkurrenzfähige deutsche Industrie zwar vom Binnenmarkt und der gemeinsamen Währung profitieren soll (vielfach mussten die Konkurrenten in anderen Ländern aufgeben, dort vertieften sich Deindustrialisierungsprozesse), ein dann fälliger sozialer Ausgleich jedoch vermieden werden soll. Das Paradebeispiel dafür ist die ökonomische Annexion der ehemaligen DDR. Deren Industrien wurden durch die westdeutsche Konkurrenz zerstört. Als Ausgleich bzw. Almosen gab es den Solidaritätsbeitrag für lokale Infrastrukturprojekte und als mangelhafte Grundversorgung Sozialhilfe bzw. Hartz IV-Zahlungen. Eine ähnliche Kompensationspolitik, die innerhalb der Bundesrepublik als nationale Aufgabe verbrämt wurde, soll nun im europäischen Maßstab vermieden werden, obwohl die negativen ökonomischen und sozialen Folgen der Expansion des deutschen Kapitals vergleichbar sind.

Und drittens sind sich die ökonomischen und politischen Eliten in Kerneuropa (Frankreich, Deutschland, Österreich, Benelux-Staaten) noch nicht einig, was die Staatspleite, sprich Umschuldung einzelner Länder der EU für die weltweite Position des Euros bedeuten würde. Grundsätzlich wird das Projekt verfolgt, innerhalb einer Generation zur globalen Leitwährung US-Dollar aufzuschließen und sich dem Aufstieg des chinesischen Renmimbi entgegenzustellen. Die Expansion des Euro hätte u.a. den Vorteil, dass sich der Kreditrahmen der Währung ausweiten würde (weil in der Folge mehr Euro-Anleihen gezeichnet würden) und Rohstoffe frei von Währungsschwankungen in der eigenen Währung bezogen werden könnten. Die internationale Währungsposition des Euro hängt aber nicht nur von der unmittelbaren ökonomischen Macht ab, also dem Ausmaß des internationalen Handelsvolumens, das in Euro getätigt wird. Sie ist auch davon bestimmt, welche Entwicklungsperspektive dem Euro zugeschrieben wird, ob er im Vergleich zum Wert anderer Währungen steigt, weil die Inflationsrate dauerhaft gering bleibt und auch zukünftig davon ausgegangen werden kann, dass Schulden von Eurostaaten in jedem Fall beglichen werden können.

Unter Weltmarktvoraussetzungen macht es, das zeigen die Beispiele von Island und Argentinien, für überschuldete Länder am meisten Sinn, einen Staatsbankrott zu erklären und mit den Gläubiger_innen – wie sonst in Insolvenzverfahren – auszuhandeln, mit welchen Teilrückzahlungen diese auf der Grundlage der wirtschaftlichen Leistungskraft eines Landes rechnen können. In einem solchen Modell wird davon ausgegangen, dass ein wirtschaftlicher Neustart auch für die Gläubiger_innen besser ist, weil nur dieser überhaupt Rückzahlungen ermöglicht. Die EU, geführt durch die Bundesregierung, geht jedoch gegenwärtig den entgegengesetzten Weg. Sie zwingt die betroffenen europäischen Länder zu härtesten, auch sozialen, Einsparungen. Die Folge wird voraussichtlich die ökonomische Strangulierung sein, weil der private Konsum und staatliche Investitionen massiv zurückgehen. Eine solche Strategie, das Ansehen des Euro ohne Leistungen der Kernländer und auf Kosten der hochverschuldeten Peripherieländer retten zu wollen, ist nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch äußerst riskant.

Von der Finanzkrise zur sozialen Hörigkeit

Aus der so geschaffenen ökonomischen Situation sind für die hochverschuldeten EU-Mitgliedsstaaten und damit für die gesamte EU drei mögliche Szenarien denkbar:

  1. Die hohen Zinsen werden durch ein starkes Wirtschaftswachstum und hohe Steuereinnahmen finanziert. Diese müssten höher sein als der zu leistende Schuldzins, um nicht nur die Kredite zu bedienen, sondern langfristig zu entschulden, wie es ja auch gefordert wird.

Diese Szenario ist eher unwahrscheinlich, auch wenn einzelne Mitgliedsstaaten, allen voran die BRD, ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen haben. Gerade die stark verschuldeten Volkswirtschaften sind durch die strengen Auflagen zu einer extremen Sparpolitik genötigt, die, weil sie am härtesten bei den kleinen und mittleren Einkommensschichten zulangt, die Binnenkaufkraft stark schwächt. Deren Kompensation über den Export ist nur wenigen Ländern möglich. Die einzige Option, auf dem Exportmarkt stark zuzulegen, ist, die exportierten Güter konkurrenzfähiger, also günstiger zu machen. Dies hieße aber stärkere Reallohnsenkungen, die die Binnennachfrage sinken lassen, so dass das System kollabiert.

  1. Die hohen Schuldzinsen werden finanziert, indem die Währung entwertet wird, also eine Inflation stattfindet. Diese Strategie würde zudem Exportgüter vergünstigen.

Eine hohe Inflation trifft am stärksten die unteren Einkommensschichten, all jene also, die keine wertstabilen Güter wie Immobilien, Grundeigentum oder Betriebsvermögen besitzen, da sich die Lebenshaltung verteuert und kleinere Geld- und Sparvermögen entwertet werden. Eine hohe Inflation hat immer auch Reallohnsenkungen zur Folge, da die Anhebung der Löhne, Gehälter und auch Renten nicht in dem Maße der Inflationsrate erkämpft werden kann.

  1. Die hohen Schuldzinsen können von den jeweiligen Staaten nicht bedient werden. Wenn Verhandlungen über einen Teilschuldenerlass nicht zum Ziel führen, können die Staaten nur noch Staatsbankrott anmelden.

Im Falle der betroffenen Mitgliedsstaaten der EU würde dies wahrscheinlich den Ausstieg dieser Volkswirtschaften aus der Währungsunion bedeuten. Sie würden wieder eine eigene Währung erhalten, deren Tauschwert neu und niedriger definiert wird. Der Euro würde zusammenbrechen. Die reicheren Länder würden versuchen, ihre Stabilität zu retten, dabei jedoch den Wirtschaftsraum EU und damit auch einen Großteil ihres Exportmarktes verlieren. Wahrscheinlich ist, dass ein Zusammenbruch des Euro in allen beteiligten Mitgliedsstaaten starke wirtschaftliche Erschütterungen zur Folge hätte.

Jedes dieser Szenarien zeigt, dass die Folgen der sogenannten Bankenkrise noch nicht absehbar sind und dass die weitere Krisenentwicklung in mehr oder weniger bedrohlichen Bahnen verlaufen kann. Für den Fall einer weiteren Verschärfung der Krise sehen wir die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eher pessimistisch. Schon jetzt wird diese Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern auch in weiten Teilen der Kern-EU (wie auch in den USA) von einem gesellschaftlichen Diskurs flankiert, der deutlich national-chauvinistischen Töne anschlägt. In Deutschland sind beispielhaft die „Sarrazindebatte“ oder Pressestimmen zur Griechenlandkrise zu nennen (… erst fahren sie ihren Karren in den Dreck und dann stopfen sie die Löcher mit unserem Geld).

Es steht zu befürchten, dass im Falle eines ökonomischen Zusammenbruchs, bei dem große Teile der Geringverdiener, aber auch der unten Mittelstand ihre auch jetzt schon wacklige Lebensgrundlage verlieren (z.B. durch Arbeitslosigkeit, starke Einkommensverluste oder Abwertung der Renten), eine Verschärfung dieses Diskurses stattfindet und autoritäre, repressive und national-chauvinistische Tendenzen verstärkt wirkmächtig werden.

 

gruppe commode im April 2011